Kurz.ge.schich.te N°12 {erkennen}

by - Februar 25, 2019


Habt ihr früher auch Brieffreundschaften geführt? Damals, als man weder WhatsApp, SMS noch E-Mail kannte? Ich habe während meinen Aufenthalten in Frankreich und England, vor über 20 Jahren, stundenlang Briefe verfasst. Sie waren die einzige Kommunikationsmöglichkeit in die Heimat, neben horrend teuren Telefonanrufen. 



Aus dem Tagebuch
8. Mai 1995. Mein Auslandaufenthalt neigt sich langsam dem Ende entgegen. Seit bald zwei Monaten verbringe ich meine Zeit in Swanage, einer schmucken Kleinstadt an der Südküste Englands. Der bei Touristen beliebte Ort liegt direkt am Meer, an einem langen Sandstrand, umgeben von einem kilometerlangem Grasplateau, welches hoch über den Kalkfelsen liegt. Rosamunde Pilcher lässt grüssen. Tagsüber besuche ich die Sprachschule, abends verkrieche ich mich in meinem kleinen Zimmer und schreibe stundenlang Briefe, um mein Heimweh in Schranken zu halten. Heute ist ein Brief von meinem Grosi angekommen. 


Mein Herz macht vor Freude einen Hüpfer, wenn ich die Zeilen ihrer schnörkeligen Schrift lese. Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie mir schreiben wird. Ich muss ihr unbedingt berichten, was ich die letzten Tage erlebt habe.

Liebes Grosi (liebe Oma)

Herzlichen Dank für deinen Brief. Ich habe mich sehr gefreut, von euch zu hören. Die letzten Tage waren sehr aufregend. Ich war übers Wochenende in London, weil mein Schatz mich besucht hat. Wir haben in einem schönen Hotel gewohnt, in einer vornehmen Strasse. Die Häuser sahen aus wie Villen, umzäunt mit Gärten und schwarzen Gittertoren. Weisst du so, wie im Film von Mary Poppins. Der Frühstücksraum sah leider nicht ganz so berauschend aus. Weiss und kahl, nicht sehr gemütlich. Ich wette, das war früher einmal die Waschküche. Und zu Essen gab es auch viel zu wenig.
Danach sind wir, auf der Suche nach einer Bäckerei, durch die Strassen Londons geschlendert, unter anderem durch einen Park. Ausser uns waren nur wenige Menschen in diesem Park unterwegs. Ich sah plötzlich, dass der ganze Verkehr rundherum zum Stillstand gekommen war. Alle Ampeln waren auf Rot gestellt. Wir wunderten uns, was da wohl los ist. Da kam plötzlich ein schwarzer Rolls Royce angefahren. Und jetzt halte dich fest! Du glaubst nicht, wer da nur ein paar Meter entfernt an uns vorbei gerollt ist. Queen Elisabeth höchst persönlich!!!! Ich traute meine Augen nicht, als ich die kleine freundliche Dame in ihrem extravaganten Hut entdeckte, wie sie mit ihren weissen Handschuhen aus dem Fenster winkte. Wir schauten uns ungläubig an. Aber noch unglaublicher waren die Reaktionen der anderen Leute. Wildfremde Menschen umarmten sich vor Freude und brachen in Tränen aus. Wir amüsierten uns sehr über dieses Treiben. Denn mal ehrlich, bei uns würde kein Mensch in Tränen ausbrechen, wenn Frau Dreifuss oder Herr Ogi in einer Limousine vorbei fahren würden. Aber irgendwie hatte die ganze Situation  auch etwas Herzerwärmendes.
Es war auch sonst eine spezielle Stimmung in London. Es wurden überall Transparente und Fahnen aufgehängt, weil heute der VE Day gefeiert wird, änlässlich des 50. Gedenktages zum Ende des 2. Weltkrieges. Aber was schreibe ich da, das weisst du ja. 
Jedenfalls reiste ich gestern Abend zurück zu meiner "Familie" und erzählte ein bisschen von meinen Erlebnissen in London. Als ich meiner Home-Lady davon berichtete, dass wir die Queen gesehen haben, brach auch sie in Tränen aus. Sie konnte nicht glauben, dass ich so etwas Besonderes erleben durfte. Sie selbst hat die Queen noch nie in ihrem Leben gesehen, ausser im Fernsehen. Da musste ich erkennen, was für einen historischen Moment ich in den Augen der Engländer erlebt habe. Für sie gibt es wohl nichts Erhabeneres, als einmal im Leben die Queen persönlich zu sehen. Meine Home-Lady tut mir fast ein bisschen leid und ich würde ehrlich gesagt gerne mit ihr tauschen, denn so bedeutsam fand ich das jetzt nicht. Ich würde beim Anblick von Kevin Costner oder Brian Adams vielleicht in Tränen der Freude ausbrechen, aber nicht wegen der Queen. Bei wem würdest Du denn vor Freude in Tränen ausbrechen?

Liebes Grosi, bald sehen wir uns wieder. Nun muss ich noch ein wenig Englisch Vokabeln lernen. Sag Götti einen lieben Gruss von mir. 
Herzliche Grüsse Paula


* * * * *

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich meinem Grosi diese Zeilen so geschrieben habe, aber den Brief, den mir meine Oma geschrieben hat, habe ich noch. Und das Erlebnis mit der Queen und den Reaktionen der EngländerInnen, ist mir in bester Erinnerung. 

Liebe Grüsse Paula

Und das sind die Schreibthemen für März




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1 Liebe Worte

  1. Liebe Paula, du hast wieder Erinnerungen geweckt! Ich hatte in meiner Schulzeit mehrere Brieffreundinnen. Eine im Isenthal ;-) das mussten wir von der Schule aus. Zwei lebten in der DDR. Das war schon eine sehr andere Welt! Eine Brieffreundin habe ich nach der Wende besucht uns sie dann uns. Aber irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren.
    Wegen der Queen musste ich lachen. Herr Mo und ich haben einmal in Dänemark die königliche Kutsche mit dem Kronprinzen und der Kronprinzessin gesehen. Herr Mo behauptet noch heute, Mary habe ihm und nur ihm allein zugewunken ;-)
    Danke für deine schöne Geschichte!
    Monika

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Herzlichen Dank, dass Du Dir Zeit genommen hast, ein paar liebe Worte da zu lassen.