Kurz.ge.schich.te No°34 {Überhitzt}

by - April 01, 2020

Die Einleitung zu unserem Corona-Alltag habt ihr vielleicht gelesen. Heute geht die Geschichte weiter.




Überhitzt

Man nehme eine 8jährige Quasselstrippe, einen 10jährigen Schulmuffel, einen 44jährigen bewegungshungrigen Mann und eine 46jährige Ruhe suchende Frau, und betreue diese mit der Aufgabe, sich ab sofort und auf unbestimmte Zeit, in den eigenen vier Wänden um Homeschooling und Finanzen zu kümmern. Die Einkommen werden gestrichen. Man lasse sie über mindestens zwei Wochen im Ungewissen, ob der Staat sie finanziell unterstützen wird oder nicht. Ausflüge in die Natur sind erlaubt, aber nur als Familie. Grosselternbesuche sollen unterlassen, Zukunftspläne geschmiedet und der Schulstoff repetiert werden. Einkaufen ist erlaubt, aber Gänge ins Dorf sollen auf ein Minimum reduziert werden. Umarmungen und Besuche von Freunden werden nicht untersagt, aber auch nicht empfohlen.
Was tönt wie eine Kurzfassung zu einem schlechten Film, wurde vor zwei Wochen Realität. Der bewegungshungrige Mann quält sich seither jeden zweiten Tag 2000 Höhenmeter auf einen Berg, in der Hoffnung, die Sorgen um die Zukunft mögen in den Schweissperlen zerfliessen. Die Quasselstrippe und der Schulmuffel brüten jeden Morgen über ihren Deutsch-, Englisch- und Mathebüchern und anstelle von Turnstunden müssen sie Wanderungen mit 400-500 Höhenmetern über sich ergehen lassen. Die Nerven der Ruhe suchenden Frau liegen zwischenzeitlich mehrmals blank, genauso wie jene des bewegungshungrigen Mannes. Irgendwo dazwischen meldet sich gefühlte zehnmal täglich der Hunger der Kinder. Ach ja, kochen und einkaufen sollte man ja auch noch. Während andere Eltern von durchstrukturierten Tagesabläufen berichten, über verpasste Reisen jammern, die Medien sich toppen mit schlechten Nachrichten und die Rechnungen im Geschäft der Ruhe suchenden Frau reinflattern, ohne dass noch Geld in die Kassen fliesst, berichtet das Netz über den bevorstehenden Wandel der Gesellschaft. Man befinde sich im Geburtskanal zur nächsten Bewusstseinsebene. Nichts werde nach dieser Krise mehr sein wie vorher. Um das herauszufinden, braucht man kein Guru zu sein, dafür reichen die Umstände in den eigenen vier Wänden. Die Nerven sämtlicher Familienmitglieder werden aufs Äusserste strapaziert. Die Batterien kommen immer wieder zum erliegen.

Aber Gottlob sind Ausflüge in die Natur noch erlaubt und retten die vier Protagonisten vor einem Nervenzusammenbruch. Die Bäume, die Wälder  und die Bewegungen an der frischen Luft schaffen es immer wieder, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Als die Ruhe suchende Frau an einem kleinen Bergbach steht und das plätschernde Wasser betrachtet, denkt sie:
Vielleicht sollten wir uns vorstellen, wir sind Wasser? Denn Wasser findet immer einen Weg zum fliessen, egal wie schmal der Durchfluss ist. Manchmal kommen grosse wilde Stromschnellen, aber irgendwann kommen auch wieder ruhige Gewässer. Vielleicht sollten wir uns einfach treiben lassen, im Fluss des momentanen Strudels?

* * * * *

So hat sich die Zeit in den vergangen zwei Wochen angefühlt. Mal plätscherten unsere Tage im Corona-Alltag dahin, mal kam eine Stromschnelle, die uns mitgerissen hat. Ein einziges auf und ab. Aber ihr wisst, ich bin und bleibe eine Optimistin, auch wenn das positive Denken gerade jeden Tag aufs Neue gelernt sein will. Resilienz-Dings-Bums würde Frau Mo jetzt sagen. Und ja ich weiss, es gibt ganz viele andere, schlimmere Schicksale auf der Welt. Aber schreiben lässt Dampf ab. Und irgendwann werde ich diese Geschichte wieder lesen und mich hoffentlich darüber freuen, dass der Fluss des Lebens es gut gemeint hat. 

Liebe Grüsse Paula



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4 Liebe Worte

  1. Liebe Paula,
    ich denke ganz fest an dich :-)
    und bin mir sicher, dass der Fluss deines Lebens den richtigen Weg findet...
    Ganz liebe Grüße in die Schweiz!
    Passt auf euch auf!
    Melanie

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  2. Der Fluss - ein schönes Sinnbild fürs Leben! Ich wünsch euch viel Kraft und Durchhaltevermögen! Auf dass das Leben nach dem Stau umso kräftiger fliesst!
    Heitere Grüsse Britta

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  3. hej paula, bin ich froh sind meine damen schon so gross dass ich nicht noch die lehrerin geben muss! mein göga hat zum glück noch büetz. ich würde im roten drehen und ich weiss sogar aus erfahrung wie du dich fühlst (existenzangst). irgendwie geht es immer, die frage ist nur wann und wie. mein göga nervt sich gerade über gewisse kunden und ich hab ihm gerade gesagt er solle froh sein habe er noch büetz! uiii, jetzt ist er still geworden ;)
    ich selber habe "ztüe wi blöd". stehe nur in der küche um die bande bei laune zu halten. mein 91jähriger vater will auch bespasst werden und da er jetzt daheim bleiben soll wird er von meiner schwester und mir umsorgt. so hat glaub jeder irgend ein päckchen zu tragen. der eine grösser, der andere kleiner. ich denk an dich. bleib stark! ��lichst, marika

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  4. Resilienz-Dings-Bums ;-)))Ja, genau, das würde ich jetzt sagen, liebe Paula! Und ich bin weiterhin sicher, dass du sehr viel davon hast! Und vor allem, dass du die Fähigkeit besitzst, deine Resilienz stark zu behalten. Was natürlich nicht heissen soll, dass das einfach ist! Ich bin einmal mehr sehr beeindruckt, wie du/ihr diese extrem schwierige Situation meistert.
    Dein Bild vom Fluss des Lebens gefällt mir sehr!
    Fühl dich gedrückt! Monika

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Herzlichen Dank, dass Du Dir Zeit genommen hast, ein paar liebe Worte da zu lassen.