Kurz.ge.schich.te N°14 {Friedhof}

by - März 11, 2019




Begraben
Sebi schreitet gemächlich über den Friedhof, Schaufel und Pickel trägt er auf der Schulter. Es ist eisig kalt, das Thermometer stieg seit Tagen nicht über die Nullgradgrenze. Er soll auf dem mittleren Friedhofboden ein Grab ausheben. Warum können sich die Leute nicht warme Tage zum Sterben aussuchen, im Frühling, wenn der Schnee weggeschmolzen ist und die Sonne ihre wärmenden Strahlen aussendet? Aber er will nicht jammern. Eigentlich mag er seinen Beruf als Totengräber. Er arbeitet gerne mit den Händen, mag die Ruhe und den Frieden hier. Keiner der ihm dreinredet. Totenstille. Meistens jedenfalls. Aber er hasst die Kälte. Vor einer Woche ist ein Freund von ihm verstorben, Jakob Vonbühl. Er hatte sein Grab schon zu Lebzeiten reserviert. Ein Urnengemeinschaftsgrab, mit einer Grabesruhe von 20 Jahren. Danach würde sich sowieso niemand mehr für ihn interessieren, hatte er gemeint. So ist es meistens. In den ersten Monaten kommen die Angehörigen fast täglich, dann wöchentlich, dann alle paar Monate und später nur noch an Allerheiligen. Irgendwann bleiben sie ganz weg. Es ist ein Kommen und Gehen. Erst kommen sie als Trauernde, später als Verstorbene.
Sebi will später nicht hier begraben werden. Sein Wunsch ist es, einmal als Asche auf seinem Lieblingsberg verstreut zu werden. Im Geist mit den Adlern um die Wette zu fliegen. Sich tragen zu lassen und über das Tal zu gleiten. So wie die Gleitschirmpiloten.
"Na, träumst du wieder?" vernimmt er eine fröhliche Stimme. Obschon er niemanden sehen kann, ist ihm die Stimme bekannt. Es ist José, die Friedhofsseele. Sie besucht ihn dann und wann, wenn er alleine ist und behelligt ihn mit Fragen. "Begräbst du wieder ein paar Träume Sebi?", fragt José belustigt. "Halt die Klappe. Ich bin nicht in der Stimmung Witze zu reissen." Kann José denn nicht verstehen, wie ihm zumute ist?
"Schlecht gelaunt?" hakt José nach.
"Ja", entgegnet Sebi scharf und hofft, dass José verschwinden wird. Aber daran denkt die Friedhofsseele nicht im geringsten. Sie weiss, dass gerade die schlechten Tage die Besten sind, um Sebi an seine Träume zu erinnern. "Was wird denn heute begraben? Der Traum, der grossen Liebe zu sagen, wie sehr man sie all die Jahre verehrt hat? Und der Traum als Gärtner zu arbeiten?" "Was weisst du schon?", fragt Sebi traurig. "Einiges", entgegnet José. "Du weisst doch, Eugen da vorne, in der ersten Reihe links, er träumte sein Leben lang vom Auswandern. Aber er hat es nie gewagt. Und Emma, da oben rechts, sie träumte immer davon einen Beruf zu erlernen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Statt dessen hat sie ihr Leben lang ihrem alkoholsüchtigen Mann gedient. Und Trudi, ein paar Reihen neben Eugen, die immer vom Bergsteigen träumte, sich aber nie über einen Wanderweg hinausgetraut hat." Josés Aufzählungen gehen endlos weiter. Sebi hört nur halbherzig hin. Was interessieren ihn die Träume von Toten. Er ist für seine Träume sowieso zu alt. Delta fliegen, dass war einmal sein Traum gewesen. Und Schwyzerörgeli spielen, aber … "Ach wer interessiert sich schon für Träume?" Sebi schlägt seinen Pickel energisch in den harten Boden. "Hallo Sebi. Alles in Ordnung bei dir?". Sebi schreckt hoch. Ein paar Reihen weiter steht der Friedhofsverwalter, Herr Leblos und schaut ihn verwundert an. Sebi hat ihn nicht bemerkt. "Ja, ja, alles in Ordnung. Der Boden ist nur so sehr gefroren, dass ich die Schaufel nicht rein kriege." "Ach so.",  Herr Leblos schlendert mit zwei traurig blickenden Frauen weiter über den Friedhof, vermutlich auf der Suche nach einem geeigneten Grab. Sebi schaut sich um und entdeckt bei der Totenkappelle ein einfach gekleidetes Weiblein. Sie reckt den Hals, um zu sehen, wer da mit dem Friedhofverwalter durch die Grabreihen geht. Die alte Berta. War ja klar, dass sie heute hier herumstreichen wird. Sie ist oft auf dem Friedhof unterwegs, stets bemüht einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Aber Sebi kennt Berta schon lange und amüsiert sich im Geheimen über ihr neugieriges Wesen. Im Dorf heisst es dann: "Hast du gehört...", während hinter vorgehaltener Hand der neuste Tratsch ausgetauscht wird. Gewissheit bieten in solchen Fällen nur die Aushänge im Gemeindehaus. Was Berta wohl für Träume hat? 
Sebi macht sich weiter an die Arbeit. Auch wenn ihn die Friedhofsseele jedes Mal nervt, wenn sie ihn mit ihren Fragen belästigt, lassen ihn die Fragen nach seinen eigenen Träumen nie ganz los. Sie begleiteten ihn eine Weile, bis er sie wieder weit hinten in seinen Gedanken verdrängt hat und insgeheim hofft, dass sie sich nicht mehr bemerkbar machen.  

* * * * *
Ich erinnere mich noch gut, wie wir selbst vor einem Jahr mit dem Friedhofsverwalter zwischen den Grabreihen standen und darüber entscheiden mussten, welches Grab wir möchten. Reihengrab? Einzelgrab? Familiengrab? Urnengemeinschaftsgrab? Grabesruhe für 20 Jahre oder 30 Jahre? Nach Norden gerichtet oder nach Süden gerichtet? Alles schien so surreal. Tut es immer noch. Diese Woche jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.  Und wie so oft im Leben, wenn etwas Schreckliches passiert ist, hat mich dieses Erlebnis inne halten lassen und mich daran erinnert, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Und mit ihm unsere Träume. Darum kann ich euch nur ans Herz legen, lebt eure Träume

Liebe Grüsse Paula


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4 Liebe Worte

  1. Liebe Paula, das ist wieder eine ganz wunderbare Geschichte! Manchmal frage ich mich schon, warum wir Menschen oft so traurige Erlebnisse brauchen, um uns wieder an unsere Träume zu erinnern und unser Leben bewusster zu leben.
    ❤️ Monika

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    1. Das frage ich mich auch. Aber so verrückt es tönt, ich wäre geistig und seelisch vermutlich nicht dort, wo ich heute bin, wenn ich diese Erlebnisse nicht gehabt hätte, auch wenn ich auf viele der Emotionen verzichten könnte. Aber gerade diese Gefühle und Emotionen, sofern wir sie zulassen, rufen so viel tiefere Gefühle hervor, für die ich wiederum dankbar bin, so widersprüchlich es tönt und so schwer es manchmal ist. ❤️

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  2. Danke, liebe Paula, für diese tolle Geschichte. Ich habe noch lange nachgedacht, welche Träume ich eigentlich noch verwirklichen möchte .....
    Ganz liebe Grüße und fühl dich gedrückt
    Melanie

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    1. Ja gäll, manchmal ist es gar nicht so einfach, seine Träumen ausfindig zu machen.

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Herzlichen Dank, dass Du Dir Zeit genommen hast, ein paar liebe Worte da zu lassen.