KURZ.GE.SCHICH.TE NO°42 {VORANMELDUNG}

by - Februar 03, 2021

Liebe Blogleser*Innen
Heute gibt es wieder eine Kurzgeschichte mitten aus dem Leben. Erlebt vor einer Woche. Denn ihr wisst, die skurrilsten, spannendsten, lustigsten und tragischsten Geschichten schreibt das Leben selbst. 


 
Voranmeldung

Ich klicke auf <Herunterfahren> im Startmenü von Windows und klappe den Laptop zu. Selbst ist mir auch danach, herunterzufahren. Ermattet reibe ich über die Augen. Keine Ahnung, wie viele Stunden ich die vergangenen Tage vor dem Bildschirm verbracht habe, um den virtuellen Laden mit Artikeln zu füllen. Seit die Läden auf Anordnung des Bundesrates wieder geschlossen sind, bleibt einzig der Versuch, einen Teil des Sortimentes online zu verkaufen. 

Ich erhebe mich, schiebe den Bürostuhl zurück und begebe mich zur Küchenzeile. Ich koche Wasser und setze mich anschliessend mit einer Tasse Tee zu meiner Familie an den Esstisch. Mein Kopf ist wirr von den Stunden am PC. Ich reibe erneut meine Augen und meine Schläfen. Ich stütze für einen Moment die Stirn in meinen Handflächen ab, als mich das Klingeln des Telefons aufhorchen lässt. Mit dem rechten Zeigefinger wischend, nehme ich den Anruf entgegen. Ich lausche den Worten einer Frau. Ihre Stimme klingt sanft und wohlwollend. Nicht so der Inhalt ihrer Nachricht. 
"Wie bitte?", ich muss mich verhört haben. Die Dame von der Arbeitslosenkasse versucht mir geduldig mitzuteilen, dass sie dem Antrag auf Kurzarbeit nicht nachkommen können, weil ich versäumt habe, eine Voranmeldung zu machen.
"Ähmmmm? Aber sie haben den Antrag ja bekommen?", hake ich nach.
"Den Antrag schon, aber die Voranmeldung dafür nicht."

Leicht schwindlig wechsle ich vom Esstisch wieder an den Arbeitstisch, klappe den Laptop erneut auf und drücke die Starttaste. Während dessen versuche ich den Erläuterungen der Dame zu folgen. <Voranmeldung - Frist - Antrag - zu spät - 10 Tage vorher - nicht rückwirkend - abgelaufen - grosszügig - heute noch - zwingend>. Ich weiss nicht wie mir geschieht. Meine Gefühle drehen Achterbahn. Ich krächze meine Fragen in den Hörer. Fluche, frage und wusle immer wieder verzweifelt durch meine Haare. <Sei nett. Sie ist es auch.>, quatscht eine innere Stimme dazwischen. <Mir doch egal. Die muss sich um ihren Lohn keine Sorgen machen>, weise ich die innere Stimme zurecht. <Trotzdem. Sei nett. Sie macht nur ihren Job.>

Ich versuche meine Emotionen in Schach und die Dame am Telefon bei Laune zu halten. Bedanke mich später in einer E-Mail gar für ihre Grosszügigkeit, obschon mir der staatliche Bürokram wieder einmal zum Hals raushängt. Die Wut im Bauch bleibt, bis ich alle Unterlagen zusammen habe. Voranmeldung - Antrag - Abrechnung - Lohnlisten - Organigramm und so weiter. Ich sitze für weitere zwei Stunden am PC, fülle Formulare aus, rechne, überprüfe, obwohl meine Batterien längst leer sind. Die Gedanken in meinem Kopf schwirren wie ein Schwarm Insekten. Sie fliegen wild durcheinander. Eigentlich habe ich mir das Ausfüllen der Abrechnung für den nächsten Tag vorgenommen. Aber die Dame am Telefon meinte, ich müsste die Voranmeldung dringend heute machen. Heute das ist um 16.30 Uhr. Ansonsten sei es nicht nur für den Dezember, sondern auch für den Januar zu spät, um für die Angestellten Kurzarbeit zu beantragen. Ich klicke wie vom Teufel geritten durch die einzelnen Excel- und PDF-Dateien. Meine Kinder und mein Mann bekommen eine Tirade an Flüchen ab. Wehe es wagt jemand, mich irgend etwas zu fragen. Homeoffice lässt grüssen. Ich stehe völlig neben mir. Meine innere Mitte ist mir zwischen Hausaufgaben und Nachtessen abhanden gekommen. 

Um 19.00 Uhr klappe ich den Laptop am Rande meiner Kräfte endgültig zu. Sollte ich vielleicht einen Schnaps oder einen Beruhigungstee trinken? Ich entscheide mich für Letzteres. Der Tee, mein Tagebuch und ein paar Yogaübungen holen mich wieder auf den Boden. Meine Gedanken drehen zwar noch eine Weile im Kreis, denn einen Sinn ergeben die Erklärungen und Vorschriften noch immer nicht. Ich versuche das Gehörte in meinem Kopf zu sortieren.

1. Es braucht für die Anmeldung von Kurzarbeit eine 10tägige Voranmeldung. - Schwierig, wenn der Bundesrat Massnahmen ergreift, die vier Tage später in Kraft treten und ein Wochenende dazwischen liegt. Noch schwieriger, wenn der Kanton diese Massnahmen lockert und der Bundesrat diese später wieder verschärft. Noch schwieriger, wenn man optimistisch ist und abwartet, wie sich die Situation entwickelt, weil man dem Staat nicht auf der Tasche liegen möchte.

2. Kurzarbeit kann nicht rückwirkend beantragt werden. - In diesem Falle wäre es ratsam gewesen, vorsichtshalber eine Voranmeldung einzureichen, auch wenn man nicht damit rechnet, dass eine Unterstützung nötig sein wird. Also dem Staat vorwärtsblickend auf der Tasche liegen.

3. Formulare, auf denen Antrag steht, gelten nicht als Antrag. 

4. Selbständig Erwerbende können keine Kurzarbeit-Entschädigung beantragen, aber Erwerbsersatz. Für diesen braucht es KEINE Voranmeldung, nur einen RÜCKWIRKDENDEN Antrag. 

Liebes Tagebuch, danke, dass du meine Gedanken und Wutausbrüche unzensuriert und geduldig über dich ergehen lässt. Ich versuche die staatliche Bürokratie zu verstehen, auch wenn sie keinen Sinn ergibt. {Leben muss man das Leben vorwärts. Verstehen kann man es nur rückwärts.}

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Ich glaube ich muss mein Buchprojekt "Episoden aus dem Lockdown" um einige Kapitel erweitern. Und als kleine Anmerkung: Mein Ärger ist bereits zum grössten Teil verraucht. Richtig wohl wird mir aber erst, wenn ich die schriftliche Bestätigung habe, dass die Voranmeldung akzeptiert wurde. 

Liebe Grüsse Paula




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2 Liebe Worte

  1. Ach liebe Paula! Es ist unglaublich, unverschämt, ungerecht, unlogisch, ungesund, unsinnig... was da abgeht. Weiss du, was mein Vater immer gesagt hat? 'Äs isch zum Haareel seichä!'
    Halt die Ohren steif!
    Monika

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  2. Liebe Paula,
    mit Kopfschütteln habe ich deine Kurzgeschichte gelesen. Wie gut, dass du weißt, wie du nach solchen Situationen runterkommen kannst. Unser Notar meinte bei einer Beurkundung einmal:" Verstehen kann man das Regelwerk von Behörden oft nicht.Oft scheint nach dem Motto ES LEBE DER VORGANG gearbeitet zu werden.
    Ich wünsche dir viel Erfolg!!
    Liebe Grüße aus dem hohen Norden
    Lydia

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Herzlichen Dank, dass Du Dir Zeit genommen hast, ein paar liebe Worte da zu lassen.